Unpredictable Liars
Augsburger Puppenkiste
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Text Selbstportrait

Das Selbstporträt galt lange Zeit als ein Spiegel historischer und gesellschaftlicher Veränderungen mit dem individuellen Ich im Vordergrund, bis es ab den 1960er-Jahren durch vermehrte kritische Hinterfragung nach seiner Aktualität neue Bedeutungsebenen erhielt: Künstler*innen begeben sich in körperliche Extreme, versetzen sich in andere hinein mit dem Versuch, das Andere zu erkunden, und Geschlechterrollen werden durch Maskeraden oder Rollenspiele hinterfragt. An die Stelle des Selbstbildnisses tritt die Selbstinszenierung – im digitalen Zeitalter vermeintlich als Selfie mehr denn je – oder anders gesagt, das Selbst ist das Gegenüber. Unter dem Titel „Selbstsicht: Porträt-Identitäten“ widmet das Sprengel Museum Hannover der künstlerischen Befragung des Selbstporträtgenres seit den 1960er-Jahren bis heute nun eine Ausstellung.

Auf die politische Unsicherheit während der Zeit des Kalten Kriegs und der atomaren Bedrohung, auf mediale Diversität mit der Entwicklung neuer (Massen-)Medien und zunehmende ökologische Krisen reagierten Künstler*innen, indem sie mit Traditionen brachen: So wurde zum Beispiel die Malerei als überwunden abgelehnt und dadurch paradoxerweise wiederbelebt. Die Fotografie etabliert sich weiter als eigenständiges künstlerisches Medium, und es entstanden neue Kunstformen wie Videokunst, Performance und Installation, mit denen sich die intellektuellen Debatten verschoben. Die Medienkunst als Weiterführung von bestehenden ‚vor-digitalen‘ Kunstgattungen und die Digitale Kunst als neue Entwicklung erweitern die Definition des Selbstporträts durch Manipulationen und zeigen die Differenzen zwischen der körperlich gebundenen Selbstbeobachtung und dem digitalen (körperlosen) Selbst auf. Hinter der Funktion des wiederholten Artikulierens und Befragens der eigenen Identität nach Individualität, Körperlichkeit und Zugehörigkeit steht die essenzielle Frage nach dem eigenen Selbst.

Die Ausstellung „Selbstsicht: Porträt-Identitäten“ stellt sich dieser grundlegenden Frage als Gruppenausstellung mit Werken etablierter und junger Künstlerinnen in verschiedenen Mediengattungen, die einander dialogisch gegenübergestellt werden. Dieter Roth (1930–1998) beispielsweise bricht in Bezug auf sein Material mit der tradiert-ästhetischen Norm, so werden objets trouvés als neue Bestandteile in die künstlerischen Paletten aufgenommen: Abfall fungiert als Demutsgeste, denn dieser kehrt durch Zersetzung zurück in den Kreislauf des Organischen, und die scheinbar provokante Zuwendung zu Exkrementen ist als ein egalisierender Zug zu verstehen. Paul McCarthy (1945) testet in den auf Video aufgenommenen Performances seine körperlichen Grenzen aus, indem er in Rollen schlüpft und Identitätskonstruktionen nachgeht. Helga Paris (1938) fotografiert sich nicht nur in verschiedenen Altersabschnitten, sondern auch unterschiedlichen Stimmungen. Ausgehend von ihrer Selbstdokumentation geraten aktuelle Diskurse über Selfies und Selbstporträts sowie eine Mitteilungssucht in den Blick. Isabella Fürnkäs (1988) und Julian Öffler (1985) beschäftigen sich beide mit Digitalität und dem (Künstlerinnen-)Selbst. Unter dem Schwerpunkt der Medienkunst erforscht Fürnkäs das Selbstbild durch eine Konfrontation mit Aspekten der Isolation und Verweigerung in der direkten Kommunikation. Im Gegensatz zu Fürnkäs sucht Öffler in seiner Arbeit den Kontakt zu anderen Menschen im Internet, der ihm, nachdem er sein wahres „Ich“ als Künstler offenbart hat, verweigert wird.

Behandelt wird insgesamt das Spannungsfeld zwischen künstlerischem Schaffensprozess und Selbstbeobachtung. Sich selbst zu beobachten ist ein subjektiver, fast schon intimer Moment. Die Bedingungen, Prämissen und Absichten sind dabei also stets individuell und variabel. Die Ausstellung „Selbstsicht: Porträt-Identitäten“ vereint ausgewählte Arbeiten aus der Sammlung des Sprengel Museum Hannover und Leihgaben von privaten Leihgeberinnen und zeigt ca. 45 Werke, darunter mehrere Serien. Die Ausstellung konzentriert sich auf einen Raum in der Unteren Sammlung des Sprengel Museum Hannover, interveniert aber auch künstlerisch und kuratorisch in die umliegenden Räume. Die Sehgewohnheit der immer wiederkommenden Besucherinnen wird gebrochen bzw. die Aufmerksamkeit erstmaliger Besucher*innen geschärft. Eine begleitende Broschüre erscheint in deutscher Sprache.